13.7.21

Mittelalterforschung

Was uns das Mittelalter heute zu sagen hat

(idw) „In Forschung und Lehre, bei der Nachwuchsförderung, der Lehramtsausbildung und der Wissenschaftskommunikation betreiben wir eine zukunftsorientierte Mediävistik.“ So ist es auf der Homepage von Regina Toepfer zu lesen. „Zukunftsorientierte Mediävistik“: Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Nein, ganz und gar nicht, sagt die Professorin. „In der Mediävistik arbeiten wir mit literaturhistorischen Quellen, die wichtig sind mit ihrem Bezug auf die Gegenwart und damit auch auf die Zukunft.“

Sie ist überzeugt davon, dass Expertinnen und Experten für das Mittelalter mit ihren Fragestellungen und Methoden eine historische Perspektive in aktuelle Diskussionen einbringen können. Lösungsvorschläge für Probleme, die bereits vor 800 oder mehr Jahren den Menschen zu schaffen machten, könnten auch in die heutige Zeit übertragen werden – wie sich gerade jetzt, unter den Vorzeichen einer weltweiten Pandemie, gut beobachten lasse.

Fasziniert von der Arbeit mit alten Handschriften

Regina Toepfer hat seit dem Sommersemester 2021 den Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) inne. Sie beschäftigt sich mit der deutschen Literatur vom 8. bis zum 16. Jahrhundert – einer Zeit, die sie kulturgeschichtlich extrem spannend und interessant findet. „Gerade am Anfang findet man viele Texte, in denen mit Sprache experimentiert wird. Schließlich musste man ja ganz neue Wege finden, wie sich mündliche Rede verschriftlichen lässt“, sagt sie.

Was sie ebenfalls an der Beschäftigung mit der deutschen Literatur des Mittelalters fasziniert, ist die Tatsache, dass sie dabei immer interdisziplinär arbeiten muss. Frühe Texte orientieren sich beispielsweise an lateinischen Vorbildern, später nimmt die französische Hofkultur immer stärker Einfluss, Religion und Theologie hinterlassen ihre Spuren, und für viele Werke müsse Musik quasi mitgedacht werden, da sie für die Aufführung auf der Bühne gedacht waren. Dazu kommt für sie noch der Aspekt der Materialität: „Man arbeitet oft mit mehrere hundert Jahre alten Handschriften oder frühen Drucken. Das ist schon etwas ganz Besonderes“, so Toepfer.

Kinderlosigkeit im Mittelalter

Übersetzungsliteratur und Antikenrezeption, Höfische Epik und Vormodernes Theater, Gender Studies und Digitale Bildung: Mit diesen – und einigen weiteren Schlagworten – lassen sich Regina Toepfers Forschungsschwerpunkte beschreiben. „Kinderlosigkeit im Mittelalter“ lautet ein anderes Thema, mit dem sie sich lange beschäftigt hat. Gefördert von der VolkswagenStiftung in der Programmreihe „Opus Magnum“ hat sie dazu 2020 die Monographie „Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter“ veröffentlicht, mit der sie sich auch über die Wissenschaftswelt hinaus an ein breiteres Publikum richtet.

„Kinderlosigkeit ist heute ein großes gesellschaftliches Thema – angefangen bei der Diskussion über den demographischen Wandel bis hin zu ethischen Fragen rund um die Reproduktionsmedizin“, sagt die Professorin. Vor diesem Hintergrund habe sie sich gefragt, wie wohl im Mittelalter darüber gesprochen wurde. Bei einem der „großen Liebespaare der Weltliteratur“ sei Kinderlosigkeit jedenfalls kein Thema gewesen – obwohl die Frau, die im Mittelpunkt steht, mit zwei Männern schläft, aber dennoch über viele Jahre hinweg nicht schwanger wird. Die Rede ist natürlich von Tristan und Isolde, dem Versroman von Gottfried von Straßburg, der um 1210 entstanden sein soll.

In der Liebe liegt die Erfüllung

„Wenn Isolde zu Beginn König Marke heiratet, geht es nur darum, dass sie Marke den ersehnten Sohn gebären und damit die Thronfolge sichern soll“, erklärt Regina Toepfer. Dieser Gedanke – die Thronfolge sichern – sei zur damaligen Zeit typisches Motiv für eine Heirat im Hochadel gewesen. Um Liebe sei es dabei in der Politik nie gegangen – ganz im Unterschied zum höfischen Roman. Das könnte erklären, wieso Isolde von ihrer Mutter vor der Hochzeit keinen Fruchtbarkeits-, sondern einen Liebestrank erhält, den sie – unwissend – gemeinsam mit Tristan trinkt.

Tristan als Liebhaber und Marke als Ehemann, und trotzdem keine Kinder, ohne dass darüber geklagt wird: Für Regina Toepfer zeigt dies, dass die Liebe im mittelalterlichen Roman alles andere überlagert. „Das Glück in der Partnerschaft wird eben nicht, wie wir es heute tun, als Familienglück gesehen, dass nur vollkommen ist, wenn auch Kinder da sind“, sagt sie. Glück in der Partnerschaft sei in der höfischen Literatur vielmehr einzig und allein als eine Folge erfüllter Liebe zwischen Mann und Frau betrachtet worden.

Auszeichnung für eine Mittelalter-App


Trotz ihrer Liebe zum Mittelalter und der Begeisterung für alte Handschriften: ein Feind moderner Technik ist Regina Toepfer nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie damit ihre Forschung einer breiten Öffentlichkeit nahebringen und ihren Studierenden spezielle Kompetenzen vermitteln kann. Ein Beispiel dafür ist die Mittelalter-App für Braunschweig, die sie 2017 an der TU Braunschweig entwickelt hat und für die sie mit dem Wissenschaftspreis Niedersachsen 2018 in der Kategorie Lehre ausgezeichnet wurde.

„Man kann eine Stadt lesen wie ein Buch: Überall finden sich Spuren aus dem Mittelalter, die sich natürlich auch auf das Heute auswirken“, sagt die Professorin. Auf einem digitalen Stadtrundgang in Begleitung einer App will sie auf eine spielerische Art und Weise diese Spuren aufzeigen und erklären. Dabei schlägt sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Die Benutzer der App können ihr Wissen vertiefen. Studierende können die in der Vorlesung erworbenen Techniken und Methoden in die Praxis umsetzen. Dabei erweitern sie ihre digitalen und didaktischen Kompetenzen. „Und das wird ja aktuell wieder sehr stark von Lehramtsstudierenden erwartet: Dass sie digitale Kompetenzen in die Schulen tragen“, so Toepfer. Eine vergleichbare App wie für Braunschweig will sie deshalb auch zusammen mit ihren Studierenden für Würzburg entwickeln.

Über ihren Wechsel von Braunschweig nach Würzburg freue sie sich sehr, sagt Regina Toepfer. Die Universität Würzburg sei ein attraktiver Standort für die Forschung zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit. Mit seinem gleichnamigen Kolleg sei die JMU deutschlandweit bekannt. Auch die Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Philologie und Digitalität (ZPD), dessen Neubau am Campus Nord gerade Richtfest feiern konnte, sei für sie sehr reizvoll. Toepfer ist sich deshalb sicher: „Das, was ich mitbringe, meine Expertise, und die Entfaltungsmöglichkeiten hier passen gut zusammen.“

Zur Person

Regina Toepfer hat von 1994 bis 2001 Germanistik, Theologie und Griechische Philologie an der Universität Marburg studiert. 2005 wurde sie in Deutscher Philologie (Ältere deutsche Sprache und Literatur) an der Georg-August-Universität Göttingen promoviert; 2011 folgte die Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach Stationen an der Humboldt-Universität zu Berlin und den Universitäten Bern und Heidelberg war sie von 2016 bis 2021 Professorin für Germanistische Mediävistik an der TU Braunschweig. Seit dem 1. April 2021 hat sie an der JMU den Lehrstuhl für Deutsche Philologie inne.

Seit 2018 ist Toepfer Sprecherin des DFG-Schwerpunktprogramms 2130 „Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit“; 2019 wurde sie als ordentliches Mitglied in die Klasse für Geisteswissenschaften der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft aufgenommen.

Robert Emmerich, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

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